Im Alleingang bis Suchumi

 

Von Andrea Strunk (Tiflis).


 

Nationalistische Kräfte in Georgien wollen die GUS-Friedenstruppen und UN-Beobachter nach Hause schicken, um die Konflikte im Land mit eigenen Mitteln zu lösen.

 

Heimat, Freiheit. Heimat, Sehnsucht. Heimat, Tod. In einer Bar im teuren Stadtviertel Vake in der georgischen Hauptstadt Tiflis schüttet ein Mann, der sagt, er heisse Swiad, Whiskey in seine Cola und ringt mit Händen und Worten darum, Verständnis zu finden. Es sind Gedanken und Ideen in seinem Kopf, die der Vernunft und der Menschlichkeit widersprechen, die sich spiralenförmig um ihn drehen und er sich um sie. Wie, wenn einer seine einzige Liebe und damit alles Glück verloren hat.

 

Ihm also scheinen sie so richtig, als könne es keine anderen geben. Nicht, nachdem die Großeltern umgebracht wurden, das Haus, von irgendeinem, den er nicht kennt, niedergebrannt wurde. Nein, kein Wort mehr über diese schrecklichen Erinnerungen. Nur dies: "Wie soll ich je noch ruhig sein können?" Heimat, Rache, Sühne - alles kreist um diese Begriffe, wird vermischt mit persönlichem Schmerz, mit Cowboy-Ideologien, mit Männlichkeitswahn, mit Heimweh nach der Wärme Abchasiens.

 

Um dieses Heimwehs willen - "es gibt keine Farben, die so sind, wie die Farben Abchasiens" - und damit "sein" Land wieder frei sei, fällt Swiad einige Wochen im Jahr mit seinen "Brüdern" über abchasische Dörfer her und jagt diejenigen, von denen er vermutet, sie hätten Georgier mgebracht. Manchmal, sagt er, übergäbe er sie dem Militär. Meist aber gelte ein Auge für ein Auge, ein Leben für ein Leben. Wie viele er schon erschossen hat? Er zuckt mit den Schultern.  Vom Westen recht unbemerkt ist der zwischen Georgien und Abchasien seit Jahren schwelende Konflikt im vergangenen Jahr wieder aufgebrochen. In der unzugänglichen Kodori-Schlucht, die auf abchasischem Gebiet liegt, haben sich georgische Partisanen verschanzt. Nachdem ein UN-Hubschrauber über der Schlucht abgeschossen wurde und neun Menschen ums Leben kamen, besetzten georgische Militäreinheiten Kodori. Der lautstarke Protest der UN-Mission und der GUS-Friedenstruppen wurde ignoriert. Offiziell wurde dieser Schritt damit begründet, man müsse Georgien vor Terrorismus schützen. Dass viele Georgier und mit ihnen auch nationalge- sinnte Parlamentarier das "Abchasien-Problem" endlich in eigener Regie, ohne Friedenstruppen und UN-Beobachter lösen wollen, pfeifen in Georgien die Spatzen von den Dächern.

 

Abchasien ist ein Teil Georgiens. Zumindest völkerrechtlich und ebenso in den Augen der 200.000 Georgier, die nach einem blutigen Bürgerkrieg 1992-94 von dort vertrieben wurden. Die Abchasen sehen das anders. Sie sehen sich als Opfer georgischer Willkürherrschaft. Die Kämpfe waren ausgebrochen, nachdem Tiflis den Autonomiestatus der Republik abgeschafft hatte. Immer noch fürchten die Abchasen, die georgische Armee könne wie schon Anfang der 90er jahre erneut versuchen, das Gebiet mit brutaler Gewalt zurückzuerobern.

 

Zwar waren sie im Lande eine Minderheit, als die Sowjetunion auseinander fiel und die kleinen Völker des Kaukasus in diesem Fall nach Jahrhunderte währender Unterdrückung endlich ihren eigenen Aufstieg witterten. Eine Minderheit aber, die sich der Hilfe Russlands sicher sein konnte. Nur so ist zu erklären, wie im georgisch-abchasischen Bürgerkrieg David über Goliath siegen, Abchasien seine Unabhängigkeit erklären konnte.   Auch nach dem Ende des Krieges blieb das Land unter russischem Schutz. Eine sogenannte Friedenstruppe, die de jure aus Vertretern verschiedener GUS-Länder bestehen soll, in der de facto aber nur Russen sind,  wacht gemeinsam mit der UN-Mission in Georgien (UNOMIG) über die Einhaltung des Waffenstillstands und versucht, zwischen den Positionen der beiden Länder zu vermitteln. Das ist keine leicht Aufgabe angesichts der Tatsache, dass die Abchasier sich immer wieder weigern, an den Verhandlungen teilzunehmen, weil es für sie an ihrer Unabhängigkeit nichts zu rütteln gibt, die Georgier den Abchasen aber nur eine ausgeweitete Autonomie zugestehen wollen.

 

Im vergangenen Herbst hat das georgische Parlament zudem den Abzug der russischen Friedenstruppe beschlossen, dieser Beschluss aber ist bisher nicht durch den georgischen Staatspräsidenten Eduard Schewardnadse ratifiziert worden. Die Russen weigern sich ohnehin zu gehen und behaupten, die Anwesenheit der Tschetschenen in der Kodori-Schlucht zeige, dass Georgien Terroristen unterstütze. Ausgerechnet Ruslan Gelajew, von den Russen gesucht und beschuldigt, ein tschetschenischer Terrorist der ersten Reihe zu sein, soll angeblich die Partisanen im Kodori-Tal führen. Die Georgier bestreiten dies. Dass es den Tschetschenen  gelang, quer durch Georgien in das Tal zu kommen, lässt die Russen - wohl nicht zu Unrecht - vermuten, das alles geschehe mit staatlicher Duldung.

 

Swiad ist im ersten Leben Geschäftsmann. Das erste Leben ist das in der Sicherheit von Tiflis. Fern von Blut und endlosen Märschen über Pässe, fern von zerstörten Häusern und Gräbern. Im ersten Leben führt er einen italienischen Wagen, trägt Pullover aus England und Wildlederschuhe. Im ersten Leben hat er schöne Hände, sanfte Augen und riecht wie der Davidoff-Mann. Nachts braust er gerne wie ein Rennfahrer durch die Stadt und hört dabei Hardrock. Er hat studiert, erst in Moskau, dann in Minsk, er hat zwei Studienabschlüsse und ein Unternehmen. Was für eines, bleibt geheim.

 

Im zweiten Leben ist er Terrorist. Das ist sein Ausdruck. "Partisan, Freischärler, Widerstandskämpfer, das sind Begriffe für Leute, die Helden brauchen. Ich bin kein Held. Ich will nur Abchasien zurückhaben, dafür aber stürme ich im Alleingang bis Suchumi."  Ein Frieden zwischen Georgien und Abchasien scheint jedenfalls noch immer utopisch, besonders seit dem erneuten Ausbruch der Kriegshandlungen und seit infolge der Anschläge auf das World-Trade-Center die Definition des Terrorismus erweitert wurde. Auch in anderen Randgebieten Georgiens gibt es Probleme. Adscharien, an der Schwarzmeerküste, hat sich für einen autonomen Status innerhalb Georgiens entschieden, ist damit zwar nicht territorial, tatsächlich indes verloren. Die Südosseten betrachten sich ebenfalls als unabhängig. Auch wenn das Verlangen nach Anschluss an das russische Nord-Ossetien nachgelassen hat und viele der von dort zunächst vertriebenen Georgier inzwischen wieder zurückgekehrt sind: Lösungen für den politischen Status des Gebietes gibt es nicht.

 

Separatistische Bestrebungen existieren auch, wo armenische und aserische Minderheiten wohnen. Vielen Georgiern scheint der Tag, an dem ihr stolzes, geschichtsträchtiges Reich untergeht, nahe. Partisanenbewegungen wie die "Waldbrüder" werden daher hinter vorgehaltener Hand, manchmal auch ganz offen als  Helden bezeichnet.

 

Weil der Bürgerkrieg viele Opfer forderte und die vertriebenen Georgier noch immer unter erbärmlichen Umständen leben, sind die Fronten verhärtet. Dass viele an dem Süppchen kräftig mitkochen, kaum einer den Überblick hat, wer die Fädenzieher sind, macht es nicht leichter. Obwohl die Russen eine Friedenstruppe in Abchasien errichtet haben und sich an der Einhaltung der Waffenruhe beteiligen, sind sie an einem tatsächlichen Frieden nicht interessiert, wenn dieser denn zur Bedingung hätte, dass Abchasien wieder georgisches Territorium würde. Wirtschaftlich nämlich ist das kleine Land von ihnen abhängig, und die Russen erkaufen sich nach und nach Kontrolle über einen Teil der Schwarzmeerküste.

 

Aus denselben Gründen aber ist der Westen an einem Verbleib Abchasiens auf georgischem Gebiet interessiert. Es geht nicht nur um die Wahrung der territorialen Integrität und Mitleid für das Schicksal der Flüchtlinge, es geht auch um Geld und Macht, um Öl und Gas aus dem kaspischen Meer. Um dieses auf den Weltmarkt zu transportieren, braucht der Westen den Kaukasus.

 

Das mit Gelajew, sagt Swiad, das stimme. 600 Mann seien sie, die dort in der Kodori-Schlucht kämpften. 300 Georgier. Oder mehr. Er grinst, hebt die Schultern. "Die genaue Zahl geben wir nicht bekannt." Und mindestens noch einmal so viele Tschetschenen, die im selben Geist handelten, nun gut, manche davon auch für Geld. Swiad aber, mit den schönen Augen, teuren Schuhen und Händen, die gerne Klavier spielen - "Schumanns Impromptu"- will von Geld nichts wissen. "Ich kämpfe für Freiheit. Freiheit steht höher als das Leben. Höher als mein Leben."

 

Nicht nur die "Break-away"-Regionen, auch georgische Gebiete sind außerhalb der Kontrolle der georgischen Behörden oder werden gegen finanzielle Beteiligung an den dortigen kriminellen Machenschaften von Polizei und Sicherheitskräften sich selbst überlassen. Im georgischen Pankisi-Tal im Nordosten blühten Drogenhandel und Waffenschmuggel, lange musste die einheimische Bevölkerung die Polizei bitten, dort einzugreifen, und noch immer hat sich nicht viel gebessert.

 

Die Vielfalt der Probleme und die scheinbare Ausweglosigkeit hat viele Georgier müde gemacht. Sündenböcke müssen her. Als solche eignen sich neben der eigenen Regierung die UN, die OSZE, die Europäische Kommission und die Hilfsorganisationen. Als das Parlament beschloss, das Friedensmandat der GUS-Truppe nicht zu verlängern, begann zeitgleich eine Kampagne gegen den UN-Friedensvermittler und Sonderbeauftragten für Abchasien, Dieter Boden. Die in englischer und russischer Sprache erscheinende Wochenzeitung "Georgian Times" beschuldigte den deutschen Diplomaten, die Friedensverhandlungen absichtlich in die Länge zu ziehen, um sich an UN-Geldern zu bereichern.

 

"Acht Jahre sind seit dem Beginn des Konflikts vergangen und Frieden ist nicht in Sicht. In der Zwischenzeit haben die Ausländer ein hohes Maß an sozialem und finanziellem Komfort erreicht. Sie fahren hier herum, als schulterten sie die von Rudyard Kipling beschriebene Last, die der weiße Mann als Kolonialmacht trägt. Die Ausländer haben das UN-Mandat genutzt, um eine Geldmaschine zu schaffen", schreibt die GT. Weiterhin wird Boden von der Zeitung pro-russischer Sympathien verdächtig. Der UNOMIG wird außerdem Verschwendung, sogar Unterstützung von Prostitution und Frauenhandel vorgeworfen. Boden hat bisher keine Stellung dazu genommen, von einigen Parlamentariern wurde dennoch bereits sein Ausweisung aus Georgien gefordert.

 

Die Klagen, der Westen interessiere sich nicht für die Konflikte und das Leid im Kaukasus, ja, den meisten Bewohnern Westeuropas und auch Amerikas fehle es an Bildung um zu begreifen, welch kultiviertes Land sie dem Verfall preisgebe, sind mannigfaltig. Der Nationalstolz ist groß und wenn Armut, Anarchie und Korruption das Land nicht im Würgegriff hätten, müsste man sich vom Westen und seinen Organisationen auch nichts vorschreiben lassen, so die Argumente.

 

Der Stolz der Georgier macht es schwer, Gegenargumente zu finden. Jeder Versuch, Anschuldigungen abzuschwä;chen, wird schnell als Gegnerschaft ausgelegt, dem ein biblisches "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich" zugrunde liegt. Mit Verschwörungstheorien ist man in Georgien ohnehin nicht sparsam.

 

Auch Swiad sieht den Feind in den eigenen Reihen. "Schewardnadse hat Abchasien an die Russen verkauft." Dass sich die Probleme nur auf dem Verhandlungswege lösen lassen, hält er für einen Irrglauben. "Wenn wir nicht selber handeln, wird nichts geschehen." Was denn aber werden solle, wenn die Georgier in einem weiteren Krieg Abchasien zurückerobern? "Dann baue ich mein Haus in Suchumi wieder auf. Die Abchasier dürften bleiben. Ich habe nichts gegen sie."