Georgien
An der georgischen Küste des Schwarzen Meeres lag das Land Kolchis, aus dem einst die Argonauten das Goldene Vlies und die Prinzessin Medea raubten - für die Griechen ein Konflikt mit Barbaren. Die Georgier freilich, die sich selbst Karthweli nennen, wollen schon im Altertum keine Barbaren gewesen sein; und sie beanspruchen für sich, zu den allerersten Christen außerhalb Palästinas gehört zu haben - denn hier sollen schon Jesu Apostel Andreas und Simon das Evangelium verkündet haben.
Merkwürdig mutet an, daß das alte Georgien in der Antike oft als Iberien bezeichnet wurde - genauso wie die Halbinsel am Westrand des Mittelmeers. Die kaukasischen Sprachen (deren bedeutendste die georgische ist) weisen im Bau Ähnlichkeiten mit dem ebenso isolierten Baskischen auf; aber ob deshalb auf größere Gemeinsamkeit mit der vorindogermanischen Bevölkerung Alt-Europas geschlossen werden darf, ist umstritten.
Im Lauf seiner Geschichte mußte das georgische Volk immer wieder Wechselbäder zwischen (eher kurzen) glanzvollen Perioden der Selbständigkeit und der Vorherrschaft übermächtiger Nachbarn hinnehmen. Schien das Vasallenverhältnis zu Byzanz erträglich, so sah sich Georgien durch die gewalttätige Ausbreitung des Islam, den ihm die Perser aufzwingen wollten, tief bedroht. Doch gerade in dieser Bedrängnis entfaltete das Volk unter Führung seine Königs Davith II., des „Erneuerers", um 1100 ein überraschende Energie, und Georgien erwehrte sich nicht nur der Perser und Türken, sondern erlebte auch eine großartige Entfaltung seiner Kultur. In dieser glücklichen Periode entstand auch das georgische Nationalepos „Der Recke im Tigerfell" von Schota Rustaweli (der österreichische Sowjet-Emigrant Hugo Huppert hat es in mühevoller Arbeit übersetzt).
Nach dem ersten Mongolensturm unter Dschingis-Khan gelang es Wachthangan ll. noch einmal, das Reich zu einen - aber nachdem Georgien vom Mongolenherrscher Timur ein zweites Mal überrannt worden war, waren seine Kräfte erlahmt. Es folgten die Jahrhunderte der Teilung des Landes in die Königreiche Khartlien, Kachetien und Imeretien sowie etliche kleinere Fürstentümer, und immer wieder kam aus dem islamischen Süden für sie Bedrohung. So sah König Heraklius II., unter dem Khartlien und Kachetien wieder vereint worden waren, die Rettung nur darin, sich unter den Schutz des Zaren zu stellen. Ihm wie seinem Sohn Georg XII. wurde die Unantastbarkeit der Dynastie und Ganzheit des Herrschaftsgebiets von Petersburg bestätigt, doch als jener 1800 starb, verkündete Kaiser Paul l. die Einverleibung Georgiens ins Russische Reich - ein vertragswidriger, einseitiger Gewaltakt. Die königliche Familie wurde nach Rußland verfrachtet.
Die Willkür und Bestechlichkeit der russischen Beamten, die Einführung des Russischen als Amtssprache an den Gerichten und in den Schulen, die Aufhebung der jahrhundertealten Autokephalie der georgischen Kirche riefen Widerstand hervor. So kam es zwischen 1802 und 1820 wiederholt zu Aufständen. Die Verschwörung eines „ZentralKomitees für die Befreiung", das einen Aufstand aller Provinzen Georgiens vorbereitete, wurde 1832 aufgedeckt, und nun wanderten die in ihr vereinigten Patrioten - Adelige, Geistliche, Literaten - in die Verbannung.
Die Vergeblichkeit des Aufbegehrens führte dazu, daß sich die georgische Führungsschicht allmählich mit der neuen Situation abfand und zum Teil ins Herrschaftssystem des Zarenreichs integriert wurde; nicht so die Bauern, die noch 1841 und 1857 in blutigen Aufständen gegen die Leibeigenschaft protestierten (sie wurde 1861 im ganzen Reich abgeschafft). Die georgische Jugend, die an die Universitäten Rußlands, aber auch Deutschlands und Frankreichs strömte, brachte die neuen Ideen des Nationalismus und des Sozialismus in ihre Heimat. In den neunziger Jahren wurde die sozialdemokratische Partei Georgiens gegründet; zum Unterschied von Rußland behielten in ihr die gemäßigten Menschewiki gegenüber den revolutionären Bolschewiki die Oberhand. Als Gegengewicht zu den Sozialdemokraten entstanden die bürgerlichliberale Partei der Nationaldemokraten und die nationalistischen „Sozialföderalisten", die Autonomie für Georgien verlangten.
Nach der Februarrevolution von 1917 hofften die Georgier auf die Verwirklichung der Autonomie im Rahmen der Russischen Republik. Das änderte sich schlagartig, als Lenin die konstituierende Versammlung Rußlands, in der seine Partei nur 25 Prozent der Sitze erlangen konnte, auseinanderjagte. Nun sahen auch die Georgier, wie die Völker in anderen Randstaaten, ihr Heil in der Selbständigkeit; bestärkt wurden sie darin durch die deutsche Politik, die mit dem Frieden von Brest-Litowsk einen Kordon von Deutschland abhängiger Staaten gegen Rußland schaffen wollte.
In Georgien wurden die Sozialdemokraten unter der Führung Nikolai Tschcheidses, der zunächst Vorsitzender des Petrograder Sowjets gewesen war, zur führenden Kraft. Zunächst bildete Georgien zusammen mit Armenien und Aserbaidschan die unabhängige „Transkaukasische Föderative Republik". Sie wollte mit den Mittelmächten einen Separatfrieden schließen und erkannte jene Bestimmungen des Vertrags von Brest-Litowsk, die Kars, Ardahan und Batum an die Türkei abtraten, nicht an. Die Türken stellten daraufhin ein Ultimatum, und Georgier und Armenier mußten sich ihm beugen, weil die turktatarischen Aserbaidschaner einen Krieg mit der Türkei ablehnten. Daraufhin zerbrach die Transkaukasische Föderation, und Georgien proklamierte am 26. Mai 1918 seine Unabhängigkeit. Deutschland erkannte sie sofort an und entsandte Missionen nach Georgien, die beim Aufbau der Verwaltung und der Armee mitwirken sollten; sogar ein kleines Truppenkontingent wurde geschickt; Georgien war faktisch Schutzstaat des Reichs geworden.
Das dauerte freilich nur einige Monate. Der Zusammenbruch der Mittelmächte schuf wieder eine neue Situation. Nun waren vor allem die Engländer um die Sicherung des westlichen Einflusses in Kaukasien bemüht.
Von der „Schutzmacht" bedrückt
In Baku ließen sie den Kommunistenführer Schaumian mit 25 seiner Kommissare erschießen. Die im Frieden von Sevres mit der Türkei vereinbarte Vergrößerung Armeniens nach Westen hätte Lasistan mit Georgien vereint. Der Plan scheiterte an den militärischen Erfolgen Kemal Paschas, des späteren Atatürk.
Der Rückzug der Westmächte gab Lenin die Gelegenheit, Kaukasien wieder in die Hand zu bekommen. Zuerst fiel die Nordkaukasische Republik der kleinen Bergvölker, dann folgten Aserbaidschan und Armenien. Georgien hingegen war zunächst stark genug, die Rote Armee abzuwehren. Am 7. Mai 1920 anerkannte Moskau im Frieden von Batum „rückhaltlos die Unabhängigkeit und die Souveränität des georgischen Staates".
Doch bald gab die neue Freundschaft zwischen Rußland und Kemals Türkei dem Georgier Dschugaschwili (Stalin) die Chance, seine Heimat gewaltsam zu bolschewisieren. Als Kommissar für Nationalitätenfragen gab er im Februar 1921 den Befehl zum Angriff auf Georgien. Von vier Seiten rückte die Rote Armee vor. Nach sechswöchigen Kämpfen war die Republik, der niemand zu Hilfe kam, zerschlagen. Der „Hydra des Lokalpatriotismus die Köpfe abschlagen" - dieser Forderung Stalins wurde buchstäblich nachgekommen. Lenin, schon auf dem Krankenlager, soll entsetzt gewesen sein über den maßlosen Terror, den die Sieger ausübten - seine Weisungen waren im Generalsekretariat liegengeblieben. Georgien, nun wieder in einer Transkaukasischen Sowjetföderation mit Armenien und Aserbaidschan zwangsvereint, wagte dennoch 1924 noch einmal den Aufstand. Er endete mit der Erschießung Tausender und der Deportation Zehntau- sender.
1936 wurden Armenien, Aserbaidschan und Georgien - von den Russen Grusinien genannt - Bundesrepub- liken der Sowjetunion. Erste offene Regungen eines neuen Unabhängigkeitsstrebens wurden in Georgien noch 1989 durch die Sowjetarmee blutig unterdrückt. Jedoch 1990/91 ging Georgien den Weg in die Unabhängigkeit. Die Wahl des Dissidenten Gamsachurdia zum Präsidenten brachte nicht nur den Minderheiten der Osseten und Abchasen schwere Zeiten; der neue Staatschef erwies sich rasch auch als extremer Nationalist mit Diktaturallüren. Ein Aufstand der Opposition verjagte ihn. Die Berufung von Gorbatschows ehemaligem Außenminister Schewardnadse zum neuen Präsidenten, fand jedoch auch nicht die ungeteilte Zustimmung des Volkes, war er doch vordem in seiner Heimat KGB-Chef gewesen. Georgien trat als einziger Gliedstaat der ehemaligen Sowjetunion (das Baltikum ausgenommen) zunächst nicht der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" bei.
Schewardnadse sah sich, was die separatistischen Bewegungen an der Nordgrenze betraf, sehr bald ähnlichen Problemen gegenüber wie sein gestürzter Vorgänger. Anfang 1992 hatten sich die Bewohner Südossetiens mit 90 Prozent für die Trennung von Georgien und den Anschluß an die mit Rußland föderierte Republik Nordossetien ausgesprochen. Nach schweren Kämpfen einigten sich Georgien und Rußland auf Entsendung einer Friedenstruppe; die georgischen Truppen zogen daraufhin aus Zchinwali, der südosseti schen Hauptstadt, ab.
Im August 1992 brachen in der an Georgiens Nordküste gelegenen autonomen Republik Abchasien Kämpfe aus. Die Konföderation Kaukasischer Bergvölker, vom Tschetschenenpräsidenten Dudajew ins Leben gerufen, unterstützte die muslimischen Abchasen* (die in ihrem Gebiet gegenüber den Georgiern nur eine Minderheit bilden). Die wechselvollen, blutigen Kämpfe, in deren Verlauf Georgien wiederholt Rußland der Unterstützung der Abchasen zieh, dauerten fast das ganze Jahr 1993 an. Beim Kampf um die Hauptstadt Suchumi geriet Schewardnadse selbst in Gefahr, gefangengenommen zu werden. Aus Abchasien begann eine Massenflucht der georgischen Zivilbevölkerung.
Schließlich kam es 1994 zu einem Waffenstillstand. Er wird von einer GUS-Friedenstruppe überwacht. Verhandlungen über eine endgültige Lösung brachten bis heute keine Lösung.
Expräsident Gamsachurdia, der in Tschetschenien Asyl gefunden hatte, glaubte die Zeit für seine Rückkehr gekommen. Seine „Swiadisten" wurden für die loyalen georgischen Truppen im Westteil des Landes, in Mingrelien, zu einer ernsten Gefahr. Offenbar wollte aber Moskau keineswegs die Rückkehr des nationalisti- schen Präsidenten, und das führte zu einer Änderung der Haltung Rußlands. Schewardnadse erhielt russische Unterstützung, und die Swiadisten mußten sich zurückziehen; im Januar 1994 kam Gamsachurdia unter unge- klärten Umständen ums Leben. In Abchasien kam es zu einem Waffenstillstand, ohne daß der endgültige Status der Republik, die zu einem Anschluß an Rußland neigte, geklärt war (die nächsten Verwandten der Abchasen, die Tscherkessen, Adygeer und Kabardiner, haben in Rußland ihre Republiken). Schewardnadse suchte, nicht zuletzt im Hinblick auf die Drohung der Abchasen, sich Rußland anzuschließen, die Einbindung in die GUS, der Georgien als einziger postsowjetischer Staat (die drei baltischen Republiken ausgenommen) ferngeblieben war. Am 2. März 1994 beschloss das georgische Parlament den Beitritt des Landes zur GUS. 1999 wurde Georgien auch in den Europarat aufgenommen, nachdem es die Menschenrechtskonvention unterzeichnet und sich ver- pflichtet hatte, seine Minderheitenprobleme binnen zwei Jahren im Sinne des Volksgruppenschutzes zu lösen und die Todesstrafe abzuschaffen.
*70% der Abchasen sind russisch-orthodox, lediglich 30% sind muslimisch (nicht praktizierend)