Ein Reisebericht
Es gibt auf der Welt sicher sehr viele sehr eigenartige Hotels. Mein Hotel gehört zu den eigenartigsten.
Vom Wohnzimmer meiner Suite aus blicke ich über die Gipfel der Palmen hinweg auf das Schwarze Meer, über dem vor drei Stunden die Sonne untergegangen ist. Die Strahlen spiegeln sich silbern auf der Wasserfläche, die sich nun in einem dunklen Graubraun bis zum Horizont erstreckt.
Von meinem Balkon, der einer mittelgrossen Tanzschule ausreichend Platz bieten würde, kann ich auf dem schmalen Strand russische Touristen sehen, die den Abend mit einem kleinen Spaziergang am Meer ausklingen lassen. Von links weht die Musik eines Cafés herauf, in dem Urlauber unter freiem Himmel ein Bier trinken und tanzen.
Zur Rechten stehen russische Soldaten an einem Tor oder lehnen sich an die Sandsäcke, mit denen der Posten zum Schutz gegen eine Attacke eingefasst ist. Sie schwatzen und rauchen, die Maschinengewehre lässig über die Schulter gehängt. Am Ärmel tragen sie das Emblem der russischen Friedenstruppen in Abchasien. 2.000 Mann sollen über die Einhaltung des Waffenstillstandes wachen, den Georgien und die Vertreter Abchasiens 1994 geschlossen haben. Offiziell gehören sie zur Friedenstruppe der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten, dem Zusammenschluss der Republiken der ehemaligen Sowjetunion, aber nur Moskau war bereit, Truppen zu entsenden. Damit wacht ausgerechnet das Land über die Einhaltung des Waffenstillstandes, das selbst Partei in diesem Konflikt war.
1992 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Abchasien und der georgischen Regierung zu. Die Vertreter Abchasiens, das während der Sowjetzeit den Status einer Autonomen Republik genoss, forderten einen föderativen Staat, in dem sie den gleichen Status wie Rest-Georgien besitzen würden. Tiflis wiederum bestand darauf, dass Abchasien nur eine Sonderrolle innerhalb Georgiens eingeräumt werden soll.
Die georgische Armee griff ein, um eine Abtrennung Abchasiens, in dem die Abchasier selbst nur einen Bevölkerungsanteil von achtzehn Prozent besassen, zu verhindern, und erlebte eine bittere Niederlage. Die Truppen waren wegen des Bürgerkrieges in Tiflis in einem schlechten Zustand und desorganisiert. Moskau stellte sich auf die Seite der Abchasier, lieferte Waffen und schickte Kampfflugzeuge.
Geschätzte 15.000 Georgier und 5.000 Abchasier verloren in den dreizehn Monate dauernden Kämpfen ihr Leben. Mehr als 250.000 Menschen (etwa die Hälfte der Bevölkerung) mussten fliehen. Die UN hat eine eigene Beobachtermission eingerichtet und versucht zu vermitteteln, bislang aber ohne Erfolg.
Ein Teil der russischen Friedenstruppen ist in der Anlage untergebracht, zu der auch mein Hotel gehört. "Besser als Tschetschenien", sage ich mehr im Scherz zu einem der Wachsoldaten. "Da, da, da!", antwortet er unter heftigem Kopfnicken.
Den Schlüssel zu meinem Zimmer hatte mir eine resolute Frau in einem weißen Kittel im Hauptgebäude der Anlage ausgehändigt. Hinter ihrem Schreibtisch hingen verschiedene Illustrationen des Herzen und der Lunge mit medizinischen Erläuterungen in kyrillischer Schrift. Die Anlage ist eigentlich eine Art Erholungsheim, in dem auch medizinische Anwendungen angeboten werden. Ob ich auch eine medizinische Betreuung möchte? Eigentlich nicht, obwohl mich diese weisskittelige Atmosphäre ein wenig kränklich fühlen lässt.
Dennoch wird mir ein kleines Büchlein ausgestellt, in dem alle Anwendungen - Bäder, Packungen und Massagen - eingetragen werden können. Es soll mir als Ausweis für die Wachen am Tor dienen.
Eine Mitarbeiterin (ebenfalls in weißem Kittel) führte mich vom Verwaltungsgebäude an dem Lenin-Portrait am Eingang vorbei die kleine Allee hinunter, die rechts und links von zweistöckigen Häusern in russischer Holzbauweise gesäumt wird. Wir kommen am Kino und am Denkmal für die russischen Soldaten vorbei, die bei der Ausübung ihrer Pflichten als Friedenshüter zu Tode gekommen sind. Mein Gebäude liegt direkt an der Strandpromenade. In der pompösen Halle sitzen drei weitere Frauen (ebenfalls in weißen Kitteln), die sich in dem zwanzig Meter entfernten Fernseher eine russische Seifenoper anschauen.
Mein Zimmer wird mir mit einem gewissen Stolz gezeigt. Der westliche Gast soll besonders zuvorkommend behandelt werden. So kann ich jetzt von meinem Wohnzimmer aus an der Sesselgarnitur vorbei in mein Schlafzimmer mit dem Doppelbett und dem zweiten Schreibtisch spazieren. Rechts führt eine Tür in das Badezimmer von der Grösse eines Chefbüros. Gleich zwei Kleiderschränke im Flur warten darauf, dass ich sie mit meiner spärlichen Kleidung fülle. Zugegeben, das Parkett ist locker, die Polster verschlissen, die Kopfkissen aus Stein, die Tapeten fleckig und das Badezimmer mit seinen zerbrochenen Kacheln und offenen Ausgüssen sieht so aus, als ob die Kakerlaken nur darauf warten, dass ich das Licht ausmache und ihre Party beginnen kann, aber das Ganze hat das schäbig-schöne Grandeur einer Zeit, als die Nomenklatur der Sowjetunion hierher kam, um sich von der anstrengenden Aufbauarbeit des Sozialismus zu erholen.
Einreisen nach Abchasien konnte ich nur mit der Hilfe der UN. Valentin Kostow, ein freundlicher UN Mitarbeiter in Tiflis, hat für mich ein Fax an die "Autoritäten" in Suchumi geschickt und sie von meiner Absicht informiert, die abtrünnige georgische Republik besuchen zu wollen. Nachdem eine Zustimmung eintraf, erhielt ich einen Platz auf einem UN-Flugzeug, das regelmässig die UN Mission in Suchumi versorgt.
Der Landweg ist zu schwierig. Kein georgischer Bus und kein georgisches Taxi fährt nach Abchasien. Der einzige Weg führt über die schwerbewachte Brücke über den Iguri Fluss. Von einer Überquerung der Brücke zu Fuß hatte mir Valentin abgeraten.
Um 8:00 hob die kleine weissgestrichene Maschine mit drei UN-Mitarbeitern, mir und einem Haufen Kisten und Kästen vom Flughafen in Tiflis ab. Eine knappe Stunde später landeten wir in Zugdidi, der letzten Stadt vor der inoffiziellen Grenze. Dort mussten wir in einen sowjetischen Hubschrauber im Dienst der UN umsteigen. Der Abflug verzögerte sich, weil wir noch auf eine Gruppe von VIP Fluggästen warten mussten. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für intern Vertriebene, Francis Dang, dessen Wege ich schon kurz in Tskhinvali gekreuzt hatte, war auf dem Weg von Poti nach Abchasien.
Drei weisse UN-Flugzeuge rauschten auf die Startbahn, die Delegation verabschiedete sich von ihren Gastgebern und nahm die extra für sie reservierten Plätze im Hubschrauber ein. Während des Fluges konnte ich Herrn Dang über die Schulter zu schauen. Er lass den letzten Bericht des Generalsekretärs zur Arbeit der UN-Mission in Georgien. Ein Mitarbeiter hatte die wichtigsten Stellen unterstrichen. Der Delegationsleiter hatte offensichtlich noch weniger Ahnung als ich, was ihn in Abchasien erwartet.
Der Hubschrauber flog über eine grüne Ebene, in der als silbrige Linien die Flüsse zu erkennen waren, die das Wasser aus den Bergen ins Meer führen. Aus der Höhe war nicht zu sehen, ob die Häuser bewohnt waren oder nicht. Alles war eingedeckt in ein üppiges Grün.
Der Flughafen von Suchumi glich einem Abstellplatz für abgewrackte Flugzeuge. Drei Maschinen der abchasischen Luftfahrtgesellschaft standen neben zwei Iljuschin der Aeroflot, bei denen schon der Rost an der Außenhaut zu sehen war. Die Scheiben der Cockpits waren blind. Auf der anderen Seite der Startbahn lagen zwei Flügel, die noch von einem Stück Rumpf miteinander verbunden waren. Ein Stück weiter steckte ein ausgeweidetes Cockpit mit der Nase im Gras. Ein sadistischer Riese hatte einem Insekt die Körperteile ausgerissen und in der Landschaft verstreut.
Der Weg vom Flughafen in die Innenstadt Suchumis führte durch eine Landschaft voller Grün. Die fruchtbare Erde schien voller Energie zu bersten. Alles wuchs, wucherte, grünte in der warmen, tropisch-feuchten Luft. Sträucher hatten Besitz von den leerstehenden Häusern genommen, die die Strasse säumten. Gras wuchs auf den steinernen Gerippen.
Je näher ich der Stadtgrenze kam, um so mehr Menschen standen entweder am Strassenrand und gingen zu Fuß in meine Richtung. Keine Geschäfte, sondern nur hier und da kleine Verkaufsstände mit Getränken, Zigaretten und Süßigkeiten waren zu sehen. Kurz vor der Einfahrt zum UN- Gebäudekomplex überholten wir einen verbeulten Oberleitungsbus, der funkensprühend am Bordstein entlangschlich.
Mein erster Weg in der "Hauptstadt" Abchasiens führte mich ins Regierungsgebäude, das in der Nähe des Strandes neben einem aufgegebenen Prunkhotel steht, von dem nur noch die Fassade intakt ist. Ein magerer Beamter mit gelblicher Hautfarbe händigte mir für 25 US-Dollar ein nutzloses Visum aus. Abchasien wird von keinem Land der Welt anerkannt. Das Visum ist eine trotzige Geste der Unabhängigkeit - und eine Möglichkeit, einem Ausländer ein paar Dollar abzuknöpfen.
Anschliessend wurde ich zum Büro der Abchasischen Nachrichten geführt, wo mir eine ebenso nutzlose Akkreditierung (10 US-Dollar) ausgestellt wurde. Der Leiter der Presseagentur erklärte mir, ihr Dienst werde von der russischen Agentur ITAR und von der BBC abonniert. Abchasien selbst habe 23 Zeitungen. Viele Organisationen geben ihre eigenen Publikationen heraus. Und wieviel Tageszeitungen? Eine. Was war die gestrige Schlagzeile? Das ungewöhnlich kalte Wetter. Und vorgestern? Das es keine Nachrichten gegeben habe. Er lachte, aber ich glaube, er meinte es trotzdem ernst.
Da der Leiter der Agentur gleichzeitig auch der Sprecher des Präsidenten ist, konnte ich bei ihm gleich meinen Wunsch nach einem Interview loswerden. Er versprach, sich umgehend darum zu kümmern.
Vom Konsularbeamten des Außenministeriums war mir ein Fahrer plus Fahrzeug angeboten worden. Für diesen Service muss ich allerdings selbst bezahlen. 30 US-Dollar am Tag sind in einem Land, in dem fast niemand eine bezahlte Arbeit besitzt, ein stolzer Preis. Ich willige trotzdem ein, da es in Suchumi keine Taxis gibt. Niemand hat das Geld dafür. Mit welchem Anteil der Konsularbeamte an den 30 Dollarn beteiligt ist, fragte ich nicht.
Aslan fuhr mich in ein Cafe, um mein Frühstück, für das ich in Tiflis keine Zeit hatte, nachzuholen. Wir kamen am erschossenen Gebäude des ehemaligen Bezirkssekretariats der kommunistischen Partei, an einem zerstörten Museum, den mageren Auslagen eines Kaufhauses und an den Pfützen vorbei, die sich aus der zerbrochenen Wasserleitung speisen. Unter einer Veranda, die mit Wein überwuchert war, ass ich Ölgebäck und Blinitaschen. An den Nachbartischen genossen ein paar junge Frauen ihr Eis und ein paar Männer mehr Wodka, als ihnen guttat. Bezahlt wurde in russischen Rubeln, alle Beschriftungen waren auf Russisch und gesprochen wurde ebenfalls Russisch.
Ob er eigentlich auch Abchasisch spreche, fragte ich Aslan. Schon, antwortete er zögerlich, aber eigentlich eher Russisch. Die drohende Abschaffung der abchasischen Sprache an der Universität von Suchumi war 1989 für die Nationalisten der Anlass, gegen die georgische Dominanz zu opponieren.
Aslan ist eigentlich Historiker, Spezialgebiet die Jalta-Konferenz, aber Historiker werden in Abchasien im Moment nur benötigt, um den Nachweis für den geschichtlichen Anspruch auf Unabhängigkeit zu führen. Im Krieg hat er "selbstverständlich" auf der abchasischen Seite gekämpft und er ist stolz darauf. Als ich ihn mit Blick auf die ärmlichen Verhältnisse fragte, ob sich für dies hier der Krieg gelohnt habe, erhielt ich erneut ein "Selbstverständlich" und einen kurzen Abriss, warum es für Abchasier unmöglich sei, unter georgischer Herrschaft zu leben. Nach einer kleinen Besinnungspause räumte er allerdings ein, dass es irgendwann notwendig sein werde, wieder mit den Georgiern zu leben. Nur: jede Familie habe im Krieg mindestens einen Angehörigen verloren und das könne man nicht vergessen. Georgische Familien, die zudem noch ihr Hab und Gut verloren haben, würden mir das Gleiche erzählen, hielt ich ihm entgegen. "Ja, stimmt", sagte er mit einigem Zögern. "Es braucht Zeit."
Die UN hatte mich gewarnt, dass die Sicherheitslage in Suchumi bedenklich sei. Menschenraub und das Erpressen von Lösegeldern hat sich mangels legaler Alternativen zu einer Erwerbszweig entwickelt, mit dem sich der Lebensunterhalt sichern lässt. UN-Personal verlässt deshalb ab 19 Uhr nicht mehr ihre gesicherte Anlage.
Im Vertrauen darauf, dass schnell für Kidnapper schnell zu erkennen ist, dass sich mit mir nicht viel Geld verdienen lässt, spazierte ich am Abend den Strand entlang. Der Weg führte an einem Grünstreifen vorbei, der einst liebevoll mit exotischen Bäumen bepflanzt worden war. Die kleinen Schilder, die Auskunft über Namen und Herkunft gaben, versanken im Unkraut. Ein versumpfter Springbrunnen diente den Fröschen und Kröten als abendlicher Treffpunkt.
Bis auf den Besitzer eines kleinen Restaurants, der als einzige Gäste ein russische Familie bewirtete, war kaum en Mensch zu sehen. Suchumi sah aus, als sei im Garten Eden eine tödliche Krankheit ausgebrochen. Wer nicht dahingerafft wurde, hatte alles stehen und liegen gelassen und war geflohen. Nur die Alten und die Schwachen blieben zurück sowie diejenigen, die dank eines Gegengiftes gegen die Krankheit immun waren.
Und auch die russischen Touristen scheinen gegen das Virus gefeit zu sein. Von dem Balkon meines Hotelzimmers aus kann ich sehen, wie sie ungeachtet der Zerstörung und des Verfalles um sie herum eng aneinander geschmiegt tanzen.
Poka!