Über die Grenze von Russland nach Abchasien
14. September 2000
Von Sochi aus führt eine
gut ausgebaute, vierspurige Strasse die Küste entlang Richtung Süden. Nach einer
knappen Viertelstunden erreichen Misha und ich Adler, einen kleinen Ferienort,
der im Schatten des Trubels
von Sochi liegt.
Misha fährt fast täglich diese Strasse von und zur Arbeit. Er ist Taxifahrer, wohnt in einem kleinen Ort in der Nähe von Succhumi in Abchasien, arbeitet aber in Sochi. In Abchasien sind die Leute zu arm, um mit dem Taxi zu fahren, und andere Arbeit gibt es nicht.
Ich will mir die Grenze zwischen der selbsterklärten Republik und Russland anschauen. Kein Staat der Welt hat Abchasien als eigenständigen Staat anerkannt und nach internationalem Recht gehört die Region zu Georgien.
Auch Moskau akzeptiert
offiziell die Rechtslage, obwohl Russland während des Bürgerkrieges 1992/93 die
abchasische Unabhängigkeitsbewegung unterstützt hat. Ebenfalls offizielle geriet
sich Moskau heute als Vermittler und Friedensstifter in dem immer noch
ungelösten Konflikt. Die GUS Friedenstruppe, die ein neues Aufflammen der Kämpfe
verhindern soll, besteht ausschliesslich aus russischen Soldaten.
Für das verarmte Abchasien
ist die Grenze nach Russland das einzige Tor aus seiner isolierten Welt. Mit dem
verfeindeten Georgien verbietet sich jeglicher Handel und andere Nachbarn gibt
es nicht.
Kurz hinter Adler wird die
Strasse holpriger. Die Fahrt geht über einen kleinen Fluss und dann eine Reihe
von Schuppen mit Baumaterialien, Zementhandlungen und Autowerkstätten entlang.
Hinter einer langgestreckten Kurve tauchen plötzlich erste Verkaufsstände mit
Lebensmitteln, Kleidung und Haushaltsmitteln auf - der Beginn eines grösseren
Marktes. Die Strasse hinunter wird der Verkehr immer dichter. Autos wenden und
blockieren die Strasse, Fussgänger schleppen Säcke voller Zwiebeln und Mehl. Ja,
nickt Misha, dies ist die Grenze.
Eine Grenze, die offenbar
aufmerksam beobachtet wird, denn kaum habe ich das erste Foto gemacht, kommt ein
uniformierter russischer Grenzbeamter mit spitzer Nase und spitzem Kinn aus der
Menge auf mich zu und befiehlt mir mitzukommen. Sein Gesichtsausdruck deutet
darauf hin, dass ich mindestens ein mittelschweres Vergehen begangen haben muss.
Wir gehen wortlos an einer mehr als hundert Meter langen Reihe von Fahr- zeugen
und Fussgängern entlang, die auf ihre Abfertigung warten, zum Grenzbüro, das nur
wenige Schritte vom Schlagbaum entfernt steht.
Der spitznasige Beamte
fordert meinen Pass und weisst mich an, vor der Tür zu warten. Ich versuche,
durch artige Gefolgsamkeit mein Schicksal nicht noch zu verschlimmern. Ein
junger Mann von etwa Mitte Zwanzig in Zivil kommt auf mich zu und fragt mich auf
Englisch, ob ich ein Tourist sei.
"Nein, Journalist."
Schwer zu erkennen, ob
dies meine Lage besser oder schlechter macht. Ich zeige ihm meinen russischen
Presseausweis. Immerhin bin ich ein ordentlich akkreditierter Journalist. Er
studiert die kleine Plastikkarte.
"Was machen Sie denn
hier?"
Ich erkläre ihm, dass ich
im Mai in Abchasien gewesen sei und man mir dort erklärt habe, ich könne von
dort aus nicht nach Russland einreisen. Nun wolle ich mich mit eigenen Augen
davon überzeugen, ob das richtig sei.
Die Spitznase kehrt zurück
und der Zivilbeamte wirft einen Blick auf meinen Pass und mein Visum. Wie ich
nach Sochi gekommen sei, ob ich ihm das Flugticket zeigen könne, wie lange ich
bleiben wolle, ob es nicht in Deutschland etwas Interessantes zu berichten gebe,
ob ich immer allein reise, wohin ich fahren wolle, wie lange ich insgesamt in
Russland bleiben wolle - russische Beamte gehen davon aus, dass sie alles etwas
angeht.
Meine Antworten scheinen
ihn aber zufrieden zu stellen. Nach einem kurzen Zögern blickt er mir in die
Augen.
"Kein Problem. Alles in
Ordnung."
Warum dann aber der
Spitznasige mit meinen Papieren nun auf die andere, die abchasische Seite der
Grenze gegangen sei.
"Nun, ich bin von der
Polizei. Er ist von der Grenzwache. Aber es ist alles in Ordnung."
Offensichtlich doch nicht
so ganz, dann Igor - wir haben uns mittlerweile vorgestellt und Hände
geschüttelt - interessiert sich noch für meine Fotos."
"Alles ist in Ordnung. Es
gibt nur ein Problem: die Fotos."
Ich befürchte, ihm werden
vor allem die Fotos nicht gefallen, die ich noch aus der Hand geschossen habe,
während ich mit dem Spitznasigen auf das Grenzgebäude zuging. Mit ein paar
Knopfdrücken lösche ich kurzentschlossen alle Fotos in der Kamera und zeige Igor
den kleinen Monitor mit der Meldung "No Pictures".
"Warum haben Sie das
gemacht?" Sein Tonfall ist leicht aufgebracht.
"Ich dachte, die Fotos
sind das Problem. Keine Fotos - kein Problem."
Diese Logik erscheint Igor
suspekt, aber es ist ihr auch schwer zu widersprechen. So plaudern wir
miteinander, während wir auf die Rückkehr des Spitznasigen warten. Einige
Tausend Menschen würden schon am Tag die Grenze passieren. Die Abchasier hätten
ihre eigenen Pässe und sie könnten frei nach Russland einreisen, wenn sie sich
vorab registrieren lassen würden.
Die Frage, wieso
abchasische Pässe akzeptiert werden, wenn Moskau die abchasische Regierung
offiziell nicht anerkennt, stelle ich nicht. Die Feinheiten doppelbödiger
Diplomatie scheinen in meiner gegenwärtigen Situation nicht das richtige
Gesprächsthema zu sein.
"Wenn Sie wollen, können
Sie nach Abchasien einreisen." entspant Igor die Situation.
"Ja, aber ich komme nicht
nach Russland zurück."
Doch, doch, versichert er
mir. "Kein Problem". Ich will es lieber nicht darauf ankommen lassen. Die Tiefen
russischer Bürokratie sind unergründbar.
Immerhin kehrt die
Spitznase zurück und sein Gesichtsausdruck verrät die Enttäuschung, doch keinen
gefährlichen Spion geschnappt zu haben, der auf offener Strasse, für jeder man
sichtbar, ein Foto machte. Meine Papiere werden mir zurückgegeben, Hände erneut
geschüttelt.
Auf der Rückfahrt nach
Sochi versucht Misha mir die ökonomische Logik des abchasisch- russischen
Marktes zu erklären. "Schuhe beispielsweise", so Misha, der die Augen nicht von
der Strasse nimmt, "kommen aus der Türkei.
Die gibt es in Abchasien
auch, aber bei uns sind sie zum einen teurer, weil es keinen legalen Handel mit
der Türkei gibt. Zum zweiten gibt es kaum eine Auswahl."
Das leuchtet ein. Aber was
ist mit den Zwiebeln? Abchasien ist ein fruchtbares Land und hat nach der
Vertreibung der Georgier mehr bestellbares Land als Menschen, die es
bewirtschaften können. Warum kaufen Abchasier dann Zwiebeln in Russland?
Es mag an meiner
Begriffsstutzigkeit liegen oder an den sehr begrenzten Fähigkeiten von Misha und
mir, sich jeweils in der Sprache des anderen auszudrücken, aber der
Zwiebelhandel bleibt mir trotz Mishas Erklärungs- versuchen ein Rätsel. Nach dem
dritten erfolglosen Erklärungsversuch schlägt er mir schliesslich vor, seine
Schwester in Sochi zu besuchen, die Anglistik studiere.
Kurz hinter der
Stadtgrenze biegt der klapprige Fiat in eine Seitenstrasse ein, die in die Berge
hinaufführt. Da die Dämmerung bereits einsetzt geht mir für einen Moment die
sehr nachdrückliche Mahnung von Freunden aus Moskau durch den Kopf, auf keinen
Fall allein einer freundlichen Einladung irgendwo in die Wildnis zu folgen.
Menschenraub ist in dieser Gegend der Welt eine nicht ungewöhnliche
Einnahmequelle. Aber würde ein Kidnap- per wie Misha unterwegs anhalten, um für
seine Schwester eine Tafel Schokolade zu kaufen?
Die Strasse führt in engen Kurven den Berg hinauf, dann auf der anderen Seite wieder ein Stück abwärts um erneut anzusteigen. Links und rechts stehen kleine Einfamilienhäuser, meist in Eigenhilfe gebaut, die von hier oben einen wunderbaren Blick auf der Schwarze Meer unter ihnen und die untergehende Sonne, die sich golden auf der Wasseroberfläche spiegelt, besitzen. Hin und wieder zeigt Misha auf eines dieser Häuser: "Abchasier".
Flüchtlinge des Krieges in
Abchasien haben sich hier eine neue Existenz aufgebaut.
Mishas Schwester stellt
sich als eine zierliche, hübsche Achtzehnjährige mit grossen brauen Augen
heraus. Marina studiert nicht Anglistik sondern Medizin an der Hochschule in
Sochi, und ihr Englisch, nun, ist ein wenig "ungeübt". Ihr Vater Martian, der
rätselhafter Weise nicht auch Mishas Vater ist, ist Blumenhändler. Mit Stolz
zeigt er mir sein weiträumiges Haus und den Computer samt Drucker und Scanner,
den aber nur Benjamin, der zwölfjährige Sohn, zu bedienen weiss. Nein, Internet
habe er nicht, denn hier oben gibt es keine Telefonleitungen.
Die Frau des Hauses und
die Grossmutter tragen Essen auf und Martian öffnet eine Vodkaflasche. Er sei
mit seiner Familie vor sieben Jahren aus einem kleinen Ort in der Nähe von
Succhumi vor dem Bürgerkrieg hierher geflüchtet. Sie seien Armenier. Die
Grosseltern seien 1914 vor dem Völkermord aus der Osttürkei nach Abchasien
geflüchtet. Nun habe sie ein neuer Krieg hierher gebracht.
Nach Abchasien will er
nicht zurück. Die Situation dort sei hoffnungslos. "Keine Arbeit, kein Geld."
Als Armenier ergreife er
weder für die georgische noch für die abchasische Seite Partei, weicht Martian
meiner Frage nach den Schuldigen für diesen Krieg aus, aber dann lässt er sich
doch die Bemerkung entlocken, auf beiden Seiten hätten Kriminelle die Unruhen
geschürt, die schliesslich zum Krieg geführt haben. Mehr will er nicht sagen.
Als Minderheit sollte man seine Meinung besser für sich behalten.
Auch die Bemerkung, dass
die Russen in seinen Augen Rassisten seien, die nur sich selbst und niemanden
anderen gelten lassen, war schon mehr, als Martian eigentlich sagen wollte.
Dafür klagt Marina um so heftiger über die schlechte Behandlung, die sie als
Armenierin bei Ämtern und Behörden erfährt, obwohl sie einen russischen Pass
besitzt.
Martian unterbricht ihren Redefluss mit einem neuen Toast. Auf die Familie, die Kinder und die Älteren haben wir schon getrunken. Diesmal stossen wir auf all die an, die in der Ferne an uns denken.
Auf das Vaterland, wie
sonst üblich, trinken wir den ganzen Abend nicht.
Poka